Erinnerungen
      an Fred Barth
      Wenn
      ich auf die vielen gemeinsamen Kletterjahre mit Fred Barth zurückblicke,
      bleiben Erinnerungen an erlebnisreiche Bergfahrten und - es überwiegt
      das Lachen. Fred war ein gutmütiger, sehr sensibler Mensch, insgesamt der
      personifizierte Humor. Bei vielem, was ich mit ihm erlebte, gab er oft
      ungewollt eine tragisch-komische Figur ab, die zum Schmunzeln nur so
      herausforderte. Ein solches Erlebnis mit ihm, vielleicht das ungewöhnlichste,
      soll hier noch einmal lebendig werden. Es war im Jahre 1962. Als
      Mitglieder der Bergsteigersektion beim SC Einheit Dresden durften wir,
      erstmals nach Kriegsende, in die benachbarten böhmischen Klettergebiete.
      Nur Raitza war tabu, dazu die Felsen rund um den Riesenturm im Bielatal
      sowie im Prebischtorgebiet der Streifen zwischen dem damaligen
      Julius-Fucik-Steig und der DDR-Grenze. Diese Zonen wurden scharf bewacht.
      Nachdem wir schon einiges geklettert hatten, reizte uns vor allem die
      Becksteinkante, war sie doch im alten Kletterführer von 1923 als sehr
      lohnend angepriesen. Doch der Anstieg lag genau auf dem Grenzweg
      Fuciksteig. Was tun? Erlaubt oder verboten? „Die Grenzer werden euch
      schon nicht herunterballern", rieten uns Kletterer aus Decin. „Wenn
      ihr an der scharfen Kante hängt, sieht doch jeder Posten, daß ihr keine
      Heimlichkeiten vorhabt." Also ran an die Kante. Es war der 29. Juli
      und ein Traumwetter. Ich sicherte Fritz Eske; Günter Kalkbrenner und Fred
      bildeten die zweite Seilschaft. Wir genossen die Freude, an der Kante
      hochzuturnen. Fritz hatte schon den Gipfel erreicht und forderte mich auf
      nachzukommen. Kalki saß neben mir am 2. Ring und wollte gerade Fred vom
      1. Ring hochsichern, als unten tschechische Grenzer um die Ecke stürmten
      und irgendetwas nach oben brüllten. Schnell war ich vom Ring weg und noch
      schneller \m schützenden Ausstiegskamin verschwunden. Beim
      Klettern hörte ich Freds stereotypen Kauderwelsch: „Nix verstehen,
      nix verstehen!" Als ich oben bei Fritz ankam, krachten unten mehrere
      Schüsse. „Du Fritze", griente ich schadenfroh, „jetzt schießen
      sie unserem Fred ein paar Bohnen in den Arsch." Leider blieb mir
      nicht viel Zeit zum Lachen. Vom nahen Massiv, mit uns in gleicher Höhe, rückte
      ein anderer Trupp vor. Einer der Soldaten schrie auf uns ein, ein anderer
      legte seine MPi an, und schon pfiff eine scharfe Salve um meinen Kopf. Mit
      dem Schreckensruf „Schreib mich mit ein!" sprang ich in den Kamin
      des Alten Weges (ich bin seitdem nie wieder in einen Kamin gesprungen).
      Fritz, der gerade genüßlich im Gipfelbuch blättern wollte, kam kurz
      danach hinterhergesaust. Etwas später auch Kalki.
      Als wir wieder auf dem Fuciksteig ankamen, war Fred, inzwischen vom Ring
      zurückgeseilt, von den Grenzern umringt, und wir hörten ununterbrochen
      sein Geradebreche: „Kamerad, warum bumbum, Kamerad, warum bumbum?"
      Ein Gaudi ohnegleichen. Doch die Soldaten, mit angelegter Waffe,
      schnitten grimmige Gesichter und ließen sich zu keiner Antwort
      herauslocken. Uns drei umstellten sie auch sofort. Wir durften weder zu
      unseren Rucksäcken noch uns umziehen, bis ein weiterer Trupp mit
      Handschellen und einem Diensthund bei uns eintraf. Unmißverständlich
      wurde uns danach klargemacht, die Sachen einzupacken und die Rucksäcke
      aufzunehmen. Dann trat der Grenzer mit den Handschellen auf Fritz zu und
      forderte ihn auf, seinen Arm vorzuhalten. Fritz begehrte zwar, von uns
      angestachelt, auf, sich dabei theatralisch auf die Brust klopfend, und
      rief: „Lieber laß ich mich erschießen!" Doch als der Hundeführer
      näher trat und der ausgewachsene Schäferhund drohend seine Zähne
      zeigte, wurde unser lieber Fritze friedlich wie ein Lämmchen. Klick-klick
      waren er und Fred sowie Kalki und ich zusammengeschlossen, und ein
      wunderlicher Zug setzte sich in Bewegung. Wir im Räuberzivil, vor und
      hinter uns Bewachung, dicht neben mir der Hund, der sofort knurrte, wenn
      ich mich mal umdrehte.
      Ab ging es in Richtung Prebischtor. Es war ein einmaliges Bild. Vor mir tänzelte
      mein Freund und Trainer Fred, barfuß und in Handschellen, wie ein
      Landstreicher über den Fuciksteig, an ihn gekettet Fritz, wutschnaubend
      und zutiefst von Freundeshand in Freundesland in seiner Ehre verletzt. Ich
      mußte, an Kalki gefesselt, mehr im Dauerlauf hopsen als gehen, da ich,
      noch den Rucksack auf dem Rücken, bei dessen Schrittweite nicht mithalten
      konnte, und hatte bald kaum noch Luft für blödelnde Bemerkungen.
      Doch als
      uns in der Nähe des Prebischtores immer mehr Wanderer und Ausflügler
      begegneten, erlosch jäh meine Freude an diesem Gaudi. Ich stellte mir mit
      Schrecken vor, wenn Kollegen oder Schüler aus meiner Schule mit ihren
      Eltern hier auftauchen würden. Glücklicherweise verschonte mich das
      Schicksal mit einem derartigen Tiefschlag.
      Der Rest des Tages verlief relativ schmerzlos. In Hrensko wurden wir unter
      Bewachung in einen Raum gesperrt, jeder mußte, mit dem Gesicht zur Wand,
      in einer anderen Ecke stehen. Kalki wurde als erster zum Verhör
      mitgenommen. Als er endlich wiederkam, konnten wir gehen. Es war ihm
      gelungen, den Kommandeur zu besänftigen. Leider haften wir noch einen
      weiten Weg zurück zu unseren Motorrädern, die am Eingang zum Großen
      Prebischgrund standen. Dafür haften wir viel Zeit, das Erlebte noch
      einmal gründlich durchzuhecheln. Am anderen Tag bestiegen wir den Kastenturm,
      vier Tage später gelang Fritz mit seiner bewährten „Viererbande"
      die Erstbegehung der Dresdener Wand an diesem Felsen. Es war der Ausklang
      unserer ersten Fahrt ins Böhmische.
      
      In diesem Sommer sind 30 Jahre vergangen, seit Fritz und Kalki in der
      Eiger-Nordwand den Bergtod starben. Fred haben wir im Februar die letzte
      Ehre erwiesen. Mir bleibt die Erinnerung an eine schöne Zeit voller
      Abenteuer. Ich würde gern heute sonst wie weit in Handschellen durch die
      Gegend ziehen, könnte ich dafür noch einmal mit diesen wunderbaren
      Freunden auf einen Gipfel steigen.