Die Erstbesteigung der Barbarine

   
 

 

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Im Sommer 1905 hatte den »Schwarzen Kamin« eine Seuche befallen: Alle seine Mitglieder waren an chronischer Faulheit erkrankt. Unsere schönsten Probleme wie Höllen­hundspitze, Torwächter, Prebischkegel, Barbarine standen in guter Ruh; wir würdigten sie keines Blickes, geschweige einer Bestürmung. Mit Mühe und Not hatten wir es endlich soweit gebracht, dem Großen Wehlturm aufs Dach zu steigen. Da lief in den letzten Tagen des Monats August die aufsehen­erregende Kunde durch die Reihen der Bergfahrer, daß der Kleine Prebischkegel »gefallen« sei, aber nicht vor uns, sondern vor Nake und Genossen. Da endlich wurden wir munter und begannen zu antworten: Der Torwächter mußte vor Perry-Smith kapitulieren, Schueller erstieg die Herkulessäulen. Ich selbst hatte mich während dieser ereignisvollen Zeit wochenlang allein in der Welt der Formen und Farben, in den Dolomitbergen, herumgetrieben. Als ich dann in der regen­feuchten Dämmerstunde des 14. Septembers zurückkam, erfuhr ich von Perry-Smith alles. Wir hielten sofort Kriegsrat ab und gaben die Losung aus: »Nun drauf und dran!« Tatsächlich fuhren wir beide auch schon am nächsten Sonntage, am 17. September, hinaus, hinauf in unsere Felsenwelt, um in Rathen mit der Arbeit zu beginnen. Schlag auf Schlag fielen an diesem Tage die Höllenhundspitze, die Esse-Lammseite und der Vexierturm; im Halbdunkel besuchten wir noch den Türkenkopf. Eigentlich hatten wir abends wieder nach Dresden zurückkehren und erst im Laufe der Woche unser Werk fortsetzen wollen, als aber einige Kletterer, die von Königstein kamen, das Gerücht mitbrachten, daß soeben die Barbarine vergebens bestürmt worden sei, da guckten wir uns doch verständnisinnig an und entschlossen uns, gleich am nächsten Morgen ebenfalls dieser steinernen Jungfrau in des Wortes verwegenster Bedeutung auf den Leib zu rücken. Die trennende Nacht blieben wir in unserem liebgewordenen »Amselgrundschlößchen«.
Der nächste Morgen brach wieder mit dem wunder­schönsten Wetter an; trotzdem sah es bei uns gar nicht so aus, als ob wir große Heldentaten vollbringen wollten! Es war schon reichlich spät, als wir uns endlich von unserer Lagerstätte erhoben, und dann saßen wir an dem milden, heiteren Vormittage auf der Terrasse vor unserer Herberge, ließen uns die Sonne ins Gesicht scheinen, blinzelten in die frühherbstliche Natur hinaus, tranken Kaffee, Bier usw., Perry-Smith verpestete die reine Bergluft mit seinem Matrosentabak, ich selbst schlug mit zwölf Stück meinen eigenen Rekord im Pflaumenkuchenessen. Als aber so der Mittag immer näher herangeschlichen kam, da wurde uns doch etwas bange zu Mute; wir sprangen plötzlich auf, hingen den Rucksack über die Schulter und trabten zur Fähre hinter. Glücklich erreichten wir den Zug und waren wenige Minuten später in Königstein. Als gälte es, die verlorene Zeit wieder einzu­holen, ging es im Sturmschritt über das holprige Pflaster den steilen Weg nach Pfaffendorf hinauf. Ohne Rast liefen wir gleich auf der anderen Seite wieder zum Dorfe hinaus und gingen auf dem Nadelöhrweg stracks auf den Pfaffenstein los. Wo der Weg in die Felsen eintritt, schwenkten wir links ab und zogen, schwachen Pfadspuren folgend, am Fuße der Steilwände hin der Südspitze der Berges zu, wo unsere Felsnadel stehen mußte. Weg war jetzt alle Schlappheit, und alle Sinne wandten sich begierig dem Ziele unserer Träume zu. Perry-Smith hatte der Barbarine wohl überhaupt noch nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, ich selbst hatte sie zuerst 1895 als Junge von neun Jahren gesehen, dann 1898 und abermals drei Jahre später als strebsamer Sekundaner gelegentlich eines Klassenausflugs, immer von der gegenüberliegenden Aussicht am Pfaffenstein aus. Noch als ich das letzte Mal dort war, war ich noch nicht von der Blässe alpiner Gedanken angekränkelt, deshalb war es auch nur Scherz gewesen, wenn ich mich damals rühmte, ich würde die Barbarine demnächst mit meinem Besuche beehren. Wie doch manchmal aus leichtem Scherze so verfluchter Ernst wird! All das ging mir jetzt durch den Kopf, das Bild des Felsens stand noch in plastischer Klarheit vor meinem Gedächtnis, nur über die Größenverhältnisse war ich mit mir selbst uneins. Als wir weiter und weiter gingen und unser Ziel gar nicht auftauchen wollte, kamen wir auf den Gedanken, daß wir womöglich daran vorbeigelaufen wären; deshalb stiegen wir, um einen besseren Überblick zu gewinnen, den Hang etwas weiter hinab, der Grenze des Hochwaldes zu. Und da schob sie sich plötzlich vor der Felsecke vor, unsere sehnsüchtig gesuchte Barbarine, zwar nicht so hoch, als wir gehofft, aber in berückender Schlankheit, in einer Kühnheit und Eleganz der Linien, daß wir am liebsten die Hände nach ihr ausgestreckt und sie jubelnd umarmt hätten. — Wir wußten, daß der Anstieg an der dem Berge zugekehrten Seite liegen mußte, deshalb eilten wir rasch zur Scharte hinauf. Ich langte das Fernrohr aus dem Rucksacke hervor, zog es auf und suchte abwechselnd mit Freund Ollie den Fels von oben nach unten und von unten nach oben nach Griff und Tritt ab. »Himmel, das muß gehen, das muß gehen — nein, es geht totsicher!« Mit diesen Rufen stiegen wir den Kamin zur Pfaffenstein-Aussicht hinauf, um das Bild auch von dort zu betrachten. Da war ja nun der Anblick schon etwas weniger gemütlich, aber doch alles andere als hoffnungslos. Wieder in der Scharte angekommen, rüsteten wir uns sogleich zum Sturmangriff. Leider hatte ich mich nicht mit passenden Kletterschuhen versehen; ich hatte nur ein Paar viel zu große Halbschuhe mit, die sich beständig an den Zehen und an der Ferse umstülpten. Mit Hilfe einer ausgiebigen Länge Bindfaden gelang es mir endlich, ihnen einen notdürftigen Halt zu geben. Nun stieg ich in den Felsen ein, während Perry- Smith mir gespannt nachschaute. Von dem kleinen Vorblock aus, den wir rasch und mühelos erklommen hatten, führte uns ein einfacher, kurzer Quergang zu einem linker Hand gelegenen engen Risse, in dem eine Felsrippe klemmt. Der Riß selbst wies zwar keine besonderen Schwierigkeiten auf, wollte aber immerhin richtig genommen werden, wenn man sich nicht unnötig anstrengen sollte; er endet bei einem Absatz, der einen willkommenen Ruhepunkt und eine leidlich gute Sicherungs­möglichkeit bietet. Mein Freund kam zunächst bis hierher nach und brachte ein zweites Seil sowie verschiedene Werkzeuge zum Einsetzen eines Sicherungsringes mit. — Über den weiteren Weg kann man ja nicht im Unklaren sein: Es gilt zunächst, mit Hilfe eins schwach ausgeprägten Spaltes hinter einer Felsrippe einen engen Riß zu erreichen, der zum »Gürtel« der Barbarine führt. Darüber türmen sich zwei mächtige Blöcke übereinander, deren jeder mit einem Überhang nach unten abbricht. Namentlich vor dem oberen Überhang hatten wir einigen Respekt. Aber bis dahin hatte es ja noch gute Weile. Wir wandten uns zunächst dem Stück unmittelbar vor uns zu und entdeckten da in etwas über Kopfhöhe einen recht hübsch großen Eisenhaken, der uns zu einem erheblichen Schütteln des Kopfes veranlaßte und für dessen Sinn und Zweck uns bis heute noch nicht das Ver­ständnis aufgegangen ist. Aber das eine sahen wir jedenfalls: Wir waren nicht mehr die ersten an diesem Felsen, und es wurde für uns höchste Zeit, hier kräftig zuzupacken. Nach kurzer Rast schob ich mich an der Felsrippe empor, wobei wir es als Ehrenpflicht ansahen, die Berührung des Eisenstiftes zu vermeiden. Nach einigem Probieren fand ich die sicherste Art, den Einstieg in den zum Gürtel führenden Riß zu nehmen, und zwar zwängte ich zunächst die linke Körperhälfte in den Spalt. Ein kleines Stück noch konnte ich die Fortsetzung der Felsrippe als Stützpunkt für den rechten Fuß benutzen, was das Fortkommen wesentlich erleichterte, dann war ich ausschließlich auf den Riß angewiesen. Aber schon nach einer weiteren Strecke von kaum viel mehr als einem Meter bot sich im Innern des Spaltes ein vorzüglicher Giff, der es ermöglichte, den Oberkörper ganz aus dem Riß herauszubeugen, eine Wendung zu machen und nunmehr den rechten Arm zu verklemmen. Mir schien das deshalb besonders vorteilhaft, weil die rechte Wand des Spaltes ein wenig weiter vorsprang, in meiner neuen Lage also einen guten Rückenhalt abgeben konnte, und weil außerdem die linke Kante des Risses einige zwar schlechte, aber doch höchst erwünschte Griffe bot. Ich halte diese Art, den Riß zu durchklettern, noch heute für die beste. — Das nächste Stück kostete mich ziemlich viel Anstrengung, da die elenden Kletterschuhe gar keinen Halt hatten, weshalb ich mich ziemlich tief im Risse halten und ganz auf die Kraft der Arme verlassen mußte. Wenn ich mich vorbeugte, konnte ich den Kopf meines treuen Begleiters sehen, der sich die Zeit mit Rauchen und Pfeifen vertrieb, alle meine Bewegungen verfolgte, mit größter Sorgfalt das sichernde Seil nachgab und immer wieder erwartungsvoll fragte, wie es ginge, worauf ich ihm dann stets antworten konnte: »Es geht sehr gut, ich fühle mich sauwohl!« Wenn ich weiter hinausblickte, sah ich draußen auf dem Felde einen Ackersmann; immer, wenn er mit seiner Pflugschar umwendete, blieb er stehen, hielt schirmend die Hand über die Augen und guckte, wie weit wir wohl inzwischen gekommen wären. — Langsam, langsam, die Kräfte möglichst schonend, schob ich mich im Riß empor.
Drüben an der Pfaffenstein-Aussicht hatte sich ein Schulausflug kiemer Mädchen eingefunden, und es erhob sich da ein Lärmen und Kreischen, daß mir ganz wüst im Kopfe wurde und ich mich kaum mit Perry-Smith verständigen konnte. Aber auch diese Qual ging vorüber, die Schar zog wieder ab. Schließlich erreichte ich das Ende des Risses. Das Gestein neigte sich etwas zurück, so daß ich einen leidlichen Ruheplatz fand. Es lag dort ein größerer Stein so lose auf dem schrägen Fels, daß ein leichter Stoß mit der Hand genügte, um ihn in die Scharte hinunterzubefördern, für uns das gute Zeichen, daß bis hierher vor uns noch niemand vorgedrungen war. Nachdem ich mich genugsam ausgeruht und mir den Weiterweg angesehen hatte, band Perry-Smith das Säckchen mit dem Werkzeug wie Hammer, Meißel, Sicherungsring sowie einer Flasche Wasser an das Seil, und ich zog alles zu mir herauf. Ich hatte mich nämlich entschlossen, an dieser Stelle einen Sicherungsring einzusetzen, da mir der obere Überhang doch recht heikel und das Gestein überdies brüchig erschien. 
Als ich mich nach einer Möglichkeit, mich bei der Arbeit selbst zu sichern, umsah, entdeckte ich zu meiner Freude, daß sich am Ende des eben durchkletterten Risses ein feiner Hohlgang durchs Gestein zog. Nach langem Bemühen glückte es, einen Bindfaden durchzustecken und daran das Seil nachzuziehen. Ich band mich wieder an das Seil an und hatte das angenehme Bewußtsein: Ich kann machen, was ich will, fallen kann ich nicht! Eigentlich hätten wir das durch­gezogene Seil selbst als Sicherungsschlinge benützen und auf einen Eisenring verzichten können; aber mit Rücksicht auf eine möglichst leichte Seilhandhabung, namentlich auch bei späteren Besteigungen, blieb ich doch beim ersten Entschlüsse. Heute würden sowohl Perry-Smith wie ich selbst von der Verwendung des Ringes absehen. — Bald erklangen lebhafte Hammerschläge, und der Meißel sang und klirrte. Aber die Arbeit wollte allem Eifer zum Trotz nicht recht vom Flecke. Der Hammer war geradezu winzig, der Meißel war zu lang und zu dünn und federte so, daß alle Wucht des Schlages verloren ging, überdies wußte ich damals noch nicht, daß sich der Sandstein leichter bearbeiten läßt, wenn man Wasser darauf gießt. So kam es, daß eine reichliche Stunde verrann, bis endlich der Ringhaken im Stein saß und das Seil durch­gezogen werden konnte. Von dem langen Hämmern und von dem Festhalten des dünnen Meißels waren meine Finger ziemlich müde geworden und wurden, wenn ich einen Gegenstand fest anpackte, vom Krampfe befallen. Ich rief daher meinem Begleiter zu, daß ich es für geraten hielte, den Kampf heute abzubrechen und am anderen Morgen wiederzukommen. Perry-Smith war's zufrieden, riet aber, wenigstens bis zum oberen Kopf zu gehen und die Schlußwand zu untersuchen. Gesagt, getan! Freund Ollie kam bis zum Gürtel nach und sicherte mich von da, während ich höher kletterte. Der Fußpunkt des oberen Kopfes war bald ohne besondere Schwierigkeiten erreicht, nach einigen Körperverdrehungen gelang es mir auch, mich dort unter dem Ueberhang heraus­zuwinden und mich aufzurichten. »Nun, was denken Sie?« rief Perry-Smith herauf. »Nun, ich denke«, klang es nach unten zurück, »daß ich in einer Minute auf dem Gipfel stehen kann. Aber da meine Finger recht müde sind, habe ich nicht den Grad von Sicherheit, ohne den ich nicht gern steige.« »So? Nun dann gehen wir morgen wieder an die Barbarine und kehren jetzt um!« rief Perry-Smith wieder herauf. Mir war diese Entscheidung lieb; dem Gipfel schon so nahe, daß kaum zwei Meter fehlten, um die Hand darauf legen zu können, kehrte ich doch um und stieg zunächst bis zum Ring zurück. Dort banden wir das Seil fest, hangelten daran herunter und standen nach wenigen Minuten wieder auf sicherem Boden. 
Da unten machten wir's uns bequem, kramten unsere kärglichen Mundvorräte aus den Tiefen des Rucksackes und blickten, während wir in dem losen Sande hockten, wieder und immer wieder zu der noch unbesiegten steinernen Jungfrau hinauf. Als sich dann der Tag neigte, brachen wir auf und gingen lässigen Schrittes, schweigend durch die abendfriedliche Natur nach Pfaffendorf zurück, wo wir im Gasthofe Herberge nahmen. Am anderen Morgen standen wir verhältnismäßig früh auf. Draußen schien die helle Sonne. Als wir aber die Nase aus dem Fenster steckten, spürten wir schon, daß eine verdammt steife Brise übers Land wehte. Und als wir den Weg zum Nadelöhr am Pfaffenstein hinüberpilgerten, hatten wir zu tun, um gegen den Wind anzukommen. Im Gasthause auf der Höhe des Berges frühstückten wir ein wenig und gingen dann zur »Barbarine-Aussicht« weiter. Dort nun bekamen wir den Südost so recht aus erster Hand. Der kam keuchend über das Hügelland gehetzt, stieß gegen die Steilwand des Berges und fuhr wie tollgeworden in dem Felswinkel herum. Dann stob er wieder hinaus, packte die Bäume des Waldes beim Schöpfe und zauste und schüttelte sie, daß sie stöhnten und pfiffen; wo er einen Laubbaum erwischte, riß er ihm die Blätter vom Leibe und wirbelte sie in den Himmel hinauf. Als er auch das satt hatte, machte er sich über die Straße, raffte Staub auf, soviel er fassen konnte und streute ihn über die Fluren. Wir hatten keine Lust, bei diesem Spektakel unsere Besteigung fortzusetzen; deshalb machten wir nach einiger Zeit wieder kehrt. »Laßt den Herrn Wind nur so weiter toben«, dachten wir, »er wird schon müde werden!« Noch wiederholt wechselten wir zu unserem Ausguck hinüber, stiegen auch zur Scharte hinab und kamen wieder herauf, im übrigen verbrachten wir die Zeit mit Essen und Trinken, krochen an den Wänden des Aussichtsturmes hoch oder trieben sonstweiche Kurzweil. So rann Stunde um Stunde dahin, und es ging schon recht tief in den Nachmittag hinein. Da, gegen 4 Uhr, traf unsere Prophezeiung ein: Der Wind hatte die Puste verloren und war nach Hause gegangen, um auszurasten. Weg war er auf einmal, ganz weg! Da klemmten wir schnell die Kletterschuhe unter den Arm, hingen noch ein Seil um, trabten zum Aussichtspunkt hinüber und rutschten dort durch den Felsschacht zur Scharte hinunter. Sogleich langten wir nach dem noch von gestern an der Barbarine herunterhängenden Seile und hangelten hinter­einander weg bis zum Gürtel der Felssäule empor. Als wir dort Umschau hielten, sahen wir wieder drüben auf dem Felde den Landmann, wie er Furchen zog und den Pflug wendete. Ohne Zeit zu verlieren, machten wir das Seil klar, Perry-Smith sicherte mich, und nun stieg ich denn los. Mühelos ward wieder der obere Kopf erreicht. Ich suchte ihn nach rechts und links ab, um den Überhang an der günstigsten Stelle anzupacken, blieb aber schließlich dabei, in der bisherigen Anstiegslinie weiterzuklettern. Während unten Freund Ollie, jede Bewegung verfolgend, das Seil bediente, faßte ich sorgsam zwei Buckelgriffe, setzte den linken Fuß so hoch als möglich an, dann zog ich mich langsam und vorsichtig über den Überhang hinauf — da brach plötzlich der einzige Tritt, auf dem mein Fuß stand, weg. Schnell duckte ich mich an den Fels, riß den rechten Fuß hoch, fand Halt und hatte so den Überhang überwunden, wenn auch anders als gewollt. Wenige Augenblicke später stand ich auf dem Gipfel und schrie vor jubelnder Freude in die Luft hinaus; da merkte mein Freund, daß nun alles, alles gewonnen sei und stimmte fröhlich ein. In kürzester Frist stand er neben mir und reichte mir die Hand. 
Und der Bauer auf dem braunen Acker, da er unser Freudeneeheul vernahm, hielt die Pferde
an und wandte sich nach der Barbarine um. Wie er uns nun oben auf dem Gipfel stehen sah, riß er den Hut vom Kopfe, schwenkte ihn im Kreise, winkte uns zu und erwiderte eifrig unsere Rufe. Wir setzten einen Abseilring ein, dann schrieben wir unsere Namen auf einen Wisch Papier und steckten diesen in eine Flasche. Perry-Smith errichtete aus einem Bambusrohr, das wir gefunden hatten, eine kleine Fahnenstange und stülpte die Flasche oben auf. Das Ganze nahm sich aus, als ob sich Fräulein — pardon Frau Barbarine zur Feier des Tages einen Haarpfeil eingesteckt hätte. Noch lange saßen wir auf dem kleinen Gipfel und sahen in das weite Land hinaus. 
Die Sonne ging zur Rüste, Abendrot stand am Himmel, und die Landschaft schwamm in einem überirdischen Glänze. Es war schon bedenklich düster, als wir endlich das Seil durch den Gipfelring zogen, um uns daran zunächst bis zu dem Haken unterhalb des großen Risses herabzulassen. Von da hangelten wir vollends bis zur Erde hinab. Es machte uns einige Mühe, im letzten Dämmerschein unsere Sieben­sachen zusammenzusuchen; aus jeder Schlucht, aus jedem Busch stierte uns die Finsternis fragend entgegen, und als wir marschbereit waren, war es im Walde so stockdunkel, daß wir keinen Schritt weit sehen konnten. Wohl hatte ich eine Laterne mit, aber ich hatte das Licht verloren, was mir manche gutgemeinte Verwünschung meines lieben Begleiters einbrachte. Wir rannten gegen die Bäume, stolperten über die Blöcke, fielen hin, standen aber noch immer glücklich wieder auf. Nach endlos scheinender Wanderung erreichten wir den sogenannten bequemen Aufstieg an der Südwestseite des Berges und tasteten uns auf ihm bis zum Berggasthaus weiter. Nachdem wir dort ein bescheidenes Nachtmahl genossen hatten, versorgten wir uns mit Licht und stiegen beim zitternden Laternenschein durchs Nadelöhr hinunter nach Pfaffendorf. Es fehlte nicht mehr viel an 10 Uhr, als wir die hellerleuchtete Gaststube des Wirtshauses betraten. Unser Erfolg hatte sich schon im Dorfe herumgesprochen, kein Wunder, daß wir jetzt von den übrigen Gästen mit mehr oder minder verständnis­vollen Fragen bedacht wurden. Wir zogen deshalb vor, bald unser Stübchen aufzusuchen, waren aber noch zu freudig erregt, um alsbald einschlafen zu können; wir unterhielten uns noch lange über den glücklichen Sieg und spannen verwegene Zukunftsträume, bis endlich doch der allbezwingende Schlaf uns schweigen hieß und unsere Augen schloß. Am anderen Tage bestiegen wir den Prebischkegel, dann ging's nach der Residenz zurück. Im April des nächsten Jahres führte Perry-Smith die zweite Besteigung der Barbarine aus. Heute steht dieser Fels in der ersten Reihe der Modetouren. Wie lange noch und wir erleben die 500. Besteigung. Und die gute alte Barbarme, sie läßt alles geduldig über sich ergehen. Nur manchmal in der Nacht nach einem besonders schönen Sommersonntage, wenn die Zahl derer, die ihr Gewalt antaten, gar zu groß war, dann schüttelt sie ganz heimlich, fast umerklich ihr runzeliges Haupt. Wundert sie sich wohl, wie alles so ganz anders geworden ist? Sehnt sie sich vielleicht danach, daß alles wieder so würde wie einstens es war, vor Jahren, vor Jahren? Niemand weiß es.

     

 

 

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